Es ist der zweite Abend des Popsalon Festivals in Osnabrück und schon steht man vor schwerwiegenden Entscheidungen: Besucht man die kulturell wertvolle Schweizerin Sophie Hunger in der Lagerhalle oder tanzt zusammen mit Käptn Peng und den Tentakeln von Delphi im Haus der Jugend? Oder gibt man sich vielleicht doch lieber die volle Dröhnung Indie-Elektro mit Sizarr in der kleinen Freiheit? Und falls man doch noch etwas von Thomas Azier im Glanz & Gloria sehen will, schafft man es dann rechtzeitig zurück zum Güterbahnhof, um mit der isländischen Pop Band Retro Stefson zu feiern? Aber wie bekomme ich dann gleichzeitig auch noch den Gig von Cosmo Jarvis im Glanz & Gloria unter? Fragen über Fragen, die sich im Laufe des Abends nur spontan beantworten ließen.
Die Wahl für den ersten Act des Abends fällt leicht, denn schließlich überschneidet sich hier noch nichts. So höre ich dann die ersten Töne des Abends in der Lagerhalle. Singer-Songschreiberin Luca, Osnabrücker Lokalmatadorin und Lieblingskünstlerin der hiesigen Lokalpresse, darf den Abend pünktlich eröffnen und hier eine gute halbe Stunde lang ihre Songs zum besten geben. Die ersten drei Songs verpasse ich auch prompt. Da habe ich mich wohl zu sehr auf die typische Viertelstunde Rockstar-Verspätung verlassen. So gibt es für mich zur Strafe an diesem Abend eben keine Fotos von Luca.
Begleitet von einer Cellistin und einem netten jungen Mann an der Akustikgitarre, singt sich die junge Künstlerin vor gut gefülltem Haus durch ihr Programm aus melancholischen Songs über (verlorene) Liebe und eine (hoffentlich irgendwann) bessere Welt. Obwohl Lucas Stimme recht schön klingt und die musikalischen Arrangements auf der Bühne recht ausgefeilt und sehr durchdacht wirken, will der Funke irgendwie nicht so recht überspringen. Im Vergleich zu den Bands des Vorabends singt Luca unglaublich leise. Fast wirkt es so, als ob sie sich hinter ihrer Gitarre verstecken möchte. An ihrer Bühnenpräsenz muss die junge Dame mit dem wuscheligen Kurzhaarschnitt noch arbeiten. Einige Songs klingen, als ob sie sich im Soundtrack eines Independent-Films oder einer amerikanischen TV-Serie gut machen könnten. Alle auf einmal hintereinander live sind für mich eine Spur zu viel Pathos und die englischen Texte klingen auch irgendwie ein wenig zu gewollt. Aber jeder verdient eine zweite Chance, vielleicht reißt sie mich ja beim nächsten Mal unerwartet vom Hocker.
Nach diesem leisen Einstieg brauche ich Lautstärke. Meine Entscheidung steht fest, als nächstes geht es weiter zu Käptn Peng & die Tentakel von Delphi ins Haus der Jugend. Ein ganz kleines schlechtes Gewissen habe ich zwar, weil mich Sophie Hunger eigentlich auch sehr interessiert. Doch zum ersten habe ich mich vor ein paar Wochen in den Song „Sie mögen sich“ vom Käptn verliebt und zweitens erfahre ich dann auch noch, dass Sophie Hunger im November wieder nach Osnabrück in den Rosenhof kommen wird. Das schlechte Gewissen kann also getrost den Mund halten.
Offensichtlich bin ich nicht die einzige, die sich innerlich wie ein kleines Kind auf Käptn Peng freut. Vor dem Haus der Jugend stehen schon jede Menge Leute, die sich gegenseitig voller Vorfreude von den großartigen Peng-Texten vorschwärmen. Im Gegensatz zu Luca gilt im Haus der Jugend noch die Rockstar-Verspätungsregel. Mit fast einer halben Stunde Verzögerung startet Meister Peng, zusammen mit seinen Delphi Tentakeln, hinter kuriosen Masken versteckt das Reime-Gewitter. Wortwitz, Ironie, Sarkasmus, Gesellschaftskritik, Party Nonsens, Freestyle. Es ist fast so als ob bester Neunziger-Hiphop plötzlich mit dem 21. Jahrhundert verschmelzen und Fischmob zusammen mit Fettes Brot auf der Bühne ein uneheliches Kind zeugen würden. Oder so irgendwie in der Art. Ein bisschen ist da sogar was dran, denn zumindest feiert das Kollektiv an diesem Abend auf der Bühne tatsächlich die Geburt, oder vielmehr den Release Day, des neuesten Peng-Albums „Expedition ins O“. Davon finden sich dann auch gleich jede Menge Songs auf der Setliste, aber auch jede Menge ältere Sachen sind dabei. Ein Teil des Publikums zeigt sich erstaunlich textsicher und feiert jede Zeile, als ob Gold daran hängen würde.
Über zwei Stunden mimt Käptn Peng den Party-Kondukteur und bringt die Bude mit seiner einnehmenden Art ordentlich zum Kochen. Ich bin dabei immer wieder von seiner Tentakel-Band fasziniert – fast alle Beats werden live auf der Bühne gebaut, und das meist mit sehr ungewöhnlichen Mitteln. Statt eines klassischen Drumkits drischt Shaban unter anderem auf Baustellenwannen ein, sein Kollege nutzt ein schier endloses Sammelsurium aus Küchenutensilien und Haushaltswaren als Schlagwerk. Dazu E-Gitarre und ein waschechter Kontrabass. Großartig! Gegen 23 Uhr bekomme ich plötzlich eine SMS von einem meiner alten Kollegen aus der Kulturredaktion, den es nach dem Gig von Sophie Hunger auch noch ins Haus der Jugend gezogen hat. „Käptn Peng ist ja Robert Gwisdek!“ steht da auf meinem Display. Ich bin kurz ratlos, doch die Auflösung kommt prompt: Schauspieler Robert Gwisdek. Ich hatte mich schon zwischendurch gefragt, warum ich mir ein wenig wie in einem Live Hörspiel vorkam. Aber ich bin nunmal was Filme angeht eine absolute Niete, die Namen von Schauspielern und deren Gesichter konnte ich mir noch nie merken. Mein ehemaliger Kollege ist das großartige Gegenteil. Ich habe offensichtlich Nachholbedarf – und an diesem Abend noch was Neues gelernt.
Ich bin von der ganzen Darbietung derart eingenommen, dass ich mich nicht pünktlich auf den Weg zum Glanz & Gloria mache, um dort ab 23.30 Uhr Cosmo Jarvis zu sehen (für die anderen Gigs habe ich dank zeitlicher Verschiebung eh keine Chance mehr), sondern lieber auch noch die letzte Zugabe mitnehme und nach der Show sogar noch ein T-Shirt kaufe. Erst danach schleppe ich mich und meinen Kamerarucksack zum alten Kreishaus. Ganz schön voll ist es dort und wie erwartet hat Cosmo Jarvis sein Set bereits begonnen. Also schon wieder keine Fotos (zur Erklärung: Man darf immer nur die ersten drei Songs fotografieren). Dafür stelle ich mich gemütlich an die Bar und genieße die Musik.
Auf den ersten Blick wirkt Jarvis wie einer, der auch mal gerne ein bisschen R&B singt, doch wer diese Musik erwartet, wird von dem Engländer ziemlich überrascht. So einfach lässt sich der Singer-Songwriter, der auch als Filmemacher agiert, nämlich in keine Schublade stecken lassen. Feinster, facettenreicher Indie- und handgemachter Alternative Sound steht da auf dem Programm. Soul-Einflüsse mischen sich mit Punk-Fragmenten, Reggae trifft auf Rock’n’Roll, unterschwellige Folk und Country-Elemente. Irgendwo flirtet Jason Mraz mit Lenny Kravitz, Aerosmith und den Dropkick Murphys, mit Kid Rock, Phantom Planet und den Beatles. Und doch ist es „nur“ Cosmo Jarvis. Selten habe ich einen Musiker mit seiner Band gesehen, dem die Symbiose aus all diesen Genres derart flüssig und leichtfüßig gelingt. Dazu kommt eine unglaubliche Energie und Bühnenpräsenz, die ich gerne noch mal aus der Nähe erleben würde. Jetzt bin ich aber zu müde, um mich samt riesigem Rucksack noch nach vorne zu drängeln. Beim nächsten Mal. Ich mache dann schon mal einen mentalen Vermerk auf meiner „Must see next“-Liste. Cosmo Jarvis steht ganz weit oben.